Lob des Zweifels
Über Entscheidungsfindungen in einer vernetzten Welt
Eine Kolumne von Frank Preßler
Daten, Zahlen, Fakten, Vermutungen, Gerüchte: die schiere Menge an Informationen, die auf uns Menschen heutzutage einströmen, ist nicht mehr vollständig erfassbar. Das Informationszeitalter in seiner engeren Bedeutung hat seit den 1980er Jahren dank der Digitalisierung dazu geführt, dass sich die Anzahl der Informationen erheblich potenziert hat.
Wo es früher vielleicht nur eine Tageszeitung, wenige Fernsehsender und darüber hinaus kaum weitere Kanäle zur Informationsgewinnung gab, sind heute längst hunderte von Informations-Sendern darum bemüht, Aufmerksamkeit als die einzig relevante Währung zumindest im Netz zu erreichen. Die sog. sozialen Netzwerke, die ihre Unsozialität Tag für Tag beweisen, stellen ergänzende Angebote dar, um Informationen aufzunehmen. Wer soll das noch alles verarbeiten? Und wie?
In Unternehmen und Behörden ist das Grundproblem nicht anders: Allen Maßnahmen sollten eine hinreichend große Menge an Fakten zugrunde liegen, um Entscheidungen sicher und zielgerichtet treffen zu können. Nur wer filtert die richtigen Informationen heraus? Wie werden wichtige Fakten von unwichtigen getrennt? Wie werden persönliche Interessenslagen erkannt und von sachlogischen Parametern abstrahiert? Die durchzuführenden Bewertungen zur Beantwortung der Fragen werden durch uns Menschen erledigt. Und damit ist die Fehleranfälligkeit quasi schon vorprogrammiert, nur die Schwere der Fehler ist noch offen.
Bewertungsfehler sind überall zu finden, insbesondere im Zusammenspiel mit Zahlen und Statistiken. Die vermeintliche Verlässlichkeit in Bezug auf Zahlen ist ein besonderes Ärgernis. Wenn rund 94% aller Excel-Tabellen Fehler enthalten, wie es der Ökonom Raymond Panko einmal errechnete, auf welcher Basis werden eigentlich tagtäglich Entscheidungen getroffen? Selbst wenn man diese Zahl für zu hoch hält – andere Analysen kommen gleichwohl auch auf etwa 60-80% fehlerhafte Excel-Dateien – so sind sie ein Zeichen und Ausdruck dessen, wie Entscheidungen nur schon deshalb fehlerhaft sein können, weil die zugrundeliegende Datenbasis falsch ist. Und weshalb? Weil in der langen Kette zwischen Erstellung und Entscheidung niemand mehr daran gezweifelt hat.
Das Zweifeln ist Bestandteil des Denkens. Das Denken als solches ist anstrengend und mühsam. Wer mag heute noch Zeit investieren, angesichts des Informations-Overkills? Und noch schlimmer: Sind die vorgefassten Meinungen, Ansichten und Paradigmen, die einen in mentaler Leichtigkeit durch das Leben tragen, nicht durch das Denken gefährdet? Jedes Denken ist der natürliche Feind des Vorurteils. Wir sind längst dabei, Informationen nur danach zu kanalisieren, dass sie zu unseren verfügbaren Meinungen und Ansichten passen, und die sog. sozialen Netzwerke helfen dabei auch noch tatkräftig mit, wenn sie von „Timeline-Optimierungen“ reden. Die Vorfilterung von Informationen, in den digitalen Netzwerken automatisiert und in analogen Netzwerken bestenfalls unterbewusst gesteuert, führt zu verzerrten Wahrnehmungen, die die Differenz zwischen subjektivem Empfinden und der Realität darstellen. Verzerrungen dieser Art führen, wenn man ihnen nicht bewusst begegnet, immer folgerichtig zu Fehleinschätzungen und damit auch Fehlentscheidungen.
Diese Fehler, die unter dem Begriff der kognitiven Verzerrungen zusammengefasst werden, sind vielfältig und umgeben uns alle tagtäglich. Es gibt dutzende davon, die bekanntesten Effekte sind sicherlich die Anker-, Priming-, Framing- und Verfügbarkeitseffekte. Insbesondere die drei erstgenannten lassen sich zu Manipulationszwecken einsetzen und insofern bewusst andere Menschen steuernd nutzen. Am klarsten wird dieses bei Preisreduzierung von Sachgegenständen, wobei der vermeintliche Originalpreis der Anker darstellt. Letztlich bewerten wir dabei nicht den absoluten Preis des Gegenstands und schon gar nicht den echten Wert, sondern üblicherweise nur die prozentuale Relation zwischen Ankerpreis und Angebot. Dass hier der Manipulation durch vor Preisreduzierung angehobene Basispreise Vorschub geleistet wird ist offensichtlich.
Im Wesentlichen sind Effekte und Denkfehler dieser Art darauf zurückzuführen, wie unser Gehirn funktioniert und welche Stärken und Schwächen es hat. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass Denken anstrengend ist und Kraft kostet. In der heutigen Wissensgesellschaft sind Kopfarbeiter/innen gefragt und begehrt, und ihre Arbeit ist letztlich genauso anstrengend wie die von Menschen, die beispielsweise im Straßenbau tätig sind. Wenn man so will, ist das Gehirn daher vorwiegend durch einen bestimmten Zustand gekennzeichnet: Faulheit. Wenn es sich nicht übermäßig anstrengen muss, geht es uns gut. Viele alltägliche Abläufe erfolgen auch längst vollautomatisch, niemand denkt beim Gehen, Autofahren oder Essen über jeden einzelnen Schritt dieser drei Aktivitäten nach, sie erfolgen quasi wie von selbst.
Ganz ähnlich wie beim Gehen versucht das Gehirn auch bei anderen Denkprozessen Automatismen zu finden, die die eigene Faulheit unterstützen. Dieses geschieht durch Assoziationsketten mittels Verknüpfung von Wissen und gespeicherten Erinnerungen auf Basis einer eingegangenen Information. Hierbei untersucht unser Gehirn die Informationsbasis auf ein wichtiges Kriterium: Kohärenz. Die Frage lautet einfach: Ist die Geschichte, die Information, der Entscheidungsbedarf in sich schlüssig, nachvollziehbar, sachlogisch – also mithin kohärent? Wenn dieses der Fall ist, ist der Weg zur (Fehl-)Entscheidung schon sehr weit geebnet.
Was an dieser Stelle oftmals erfolgt, ist eine Verwechselung von Kohärenz und Kausalität. Eine Geschichte kann sich noch so gut und schlüssig anhören – sie kann trotzdem komplett falsch und bei Vorsatz auch vollständig erfunden sein. Und vermeintlich logische Schlussfolgerungen sind ebenso falsch, wenn keine Kausalität vorliegt. Diesen Effekten kann nur durch echtes Zweifeln begegnet werden. Es muss bewusst und wissentlich erfolgen, um die zuvor skizzierten Automationseffekte des Gehirns lahmzulegen.
Bewusstes Zweifeln hat immer mehrere Ebenen, die bestmögliche Ebene ist die des Selbstzweifels, um schon die eigenen Gedanken und daraus ableitend Handlungen zu hinterfragen. Plakativ formuliert: Nur der Dumme kennt keine Zweifel. Dazu muss aber das Zweifeln positiv hinterlegt sein, ähnlich wie bei dem Thema Fehlerkultur. Beide Begriffe sollten im besten Fall positiv gemeint sein, denn nur dann sind sie geeignete Mittel und Werkzeuge für Veränderungen. Man kann auch sagen, sie sind die einzigen Mittel zur Veränderung. In Gesellschaften und Organisationen ohne jeden Zweifel und mit erheblich negativen Folgen bei Fehlern ist nur eines gut und richtig: die Vergangenheit und Beständigkeit. Wenn alle nur noch „Ja“ sagen und keine Fehler mehr machen, wird es auch keine Evolution mehr geben. Seit Jahrtausenden ist jedoch die Evolution der entscheidende Treiber für den technologischen, biologischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand anno 2016. Die Natur regelt die Evolution von selbst, sie probiert aus, macht Fehler und lässt Spezies wieder verschwinden, alles im Sinne der Fortentwicklung. Bei den Menschen haben vor allem diejenigen für Entwicklungen gesorgt, die Bestehendes in Frage gestellt haben. Diejenigen, die zweifeln und verändern wollen.
An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber klargestellt: Auch das Zweifeln hat seine Grenzen und es benötigt begleitende Eigenschaften. Zu diesen gehören beispielswiese Konstruktivität und Zukunftsorientierung. Zu zweifeln negiert auch niemals die ebenso dringende Notwendigkeit des Vertrauens in sozialen Systemen, insbesondere in hierarchischen Organisationen. Beide Themen schließen sich nicht gegenseitig aus, denn Zweifel ist nicht gleich Misstrauen. Beides ist sauber voneinander zu trennen, und schon das bedeutet bewusstes Nachdenken über das eigene Handeln, auch und gerade als Führungskraft gegenüber Mitarbeitern/innen. Und wer nur und ausschließlich alles durchweg anzweifelt, überzieht dieses Instrument und führt es schnell ad absurdum. Es geht also darum, in allen Facetten genau den Weg zu finden, der das Zweifeln zu einem positiven Mehrwert führt, ohne Dritten die Wertschätzung zu entziehen und sie unter einen selbst zu stellen.
Und was heißt das nun für uns alle im beruflichen Alltag? Als Entscheider/in lernen Sie, die richtigen Fragen zu stellen. Sie wissen, dass Zahlen nicht immer richtig sein müssen und insbesondere die Interpretationen beliebig vom Standpunkt des Interpreters abhängig sind. Sie sind sich Ihrer Anfälligkeit für kognitive Verzerrungen bewusst und hinterfragen daher besonders großartig erscheinende Geschichten umso intensiver. Und als Ersteller/in von Entscheidungsgrundlagen nehmen Sie bewusst andere Sichtweisen ein, soweit Ihnen diese bekannt sind. Sie hinterfragen sich selbst und überlegen insbesondere, ob Sie selbst zu Fehlschlüssen gekommen sind, ebenso denken Sie bewusst über Alternativen nach und bewerten diese frei von subjektiven Empfindungen.
Für alle gilt: Das Bewusstsein zu schärfen ist immer ein guter Anfang. Lassen Sie es uns nutzen.
Fotolia/OpturaDesign