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Wenn Hannover ein Dorf ist, was ist dann die Welt?


Eine Kolumne von Frank Preßler

Als Hannoveraner kenne ich die Aussage zur Genüge, ich habe sie oft gehört: Hannover sei doch ein Dorf, nur weil jemand jemanden getroffen hat, der jemand anderen kennt. Jahrzehntelang habe ich mir nichts dabei gedacht, stattdessen solche Ereignisse als Zufall akzeptiert. Es zeigt sich jedoch: Die ganze Welt ist ein Dorf, und das ist nicht einmal mehr ein Zufall.

Stellen Sie sich vor, Sie würden 30 Menschen kennen. Diese Zahl ist vergleichsweise klein, aber das soll das Gedankenmodell nicht belasten. Diese 30 Menschen wiederum kennen auch 30 Leute, die Verbindungen untereinander ignorieren wir der Einfachheit halber. Sie haben damit über einen einzigen Zwischenkontakt Verbindungen zu 900 weiteren Menschen. Nehmen wir an, diese Zahl von 30 Kontakten setzt sich über die weiteren Schnittstellen fort, wie viele Stationen braucht es, bis Sie theoretisch Kontakt zur gesamten Weltbevölkerung haben: Es sind gerade einmal sechs Zwischenkontakte. Mathematisch betrachtet ergibt 307 rund 21 Milliarden. Dank der Kontakte des Netzwerkes untereinander, die hier aus Gründen der Simplifizierung ausgeblendet werden, reichen vermutlich schon 5 Kontakte aus. Soll heißen: Über gerade einmal fünf Ecken kennen Sie jeden Menschen in Chile, Ghana, Weißrussland oder Island. Verblüffend, oder?

Genauer gesagt sind es sogar durchschnittlich exakt 5,5 Ecken, zumindest in der analogen Welt. Zu diesem Ergebnis kam bereits 1967 der amerikanische Soziologe Stanley Milgram. Berühmt wurde Milgram durch seine mittlerweile nach ihm benannten Gehorsamkeits-Experimente Anfang der 1960er Jahre. Diese waren zu Beginn massiver Kritik ausgesetzt, ebenso wie die Experimente zu den Netzwerken. In beiden Fällen war Milgram seiner Zeit einfach so weit voraus, dass die Ergebnisse erst Jahrzehnte später die angemessene Anerkennung fanden.

Das heutzutage als Kleine-Welt-Phänomen bezeichnete Ergebnis der Studie vor fast genau 50 Jahren spielt heute eine große Rolle insbesondere beim Verstehen digitaler Netzwerke. Viele Nachahmungen der Experimente sowie auch die umfangreichen Analysen von digitalen Kontakten [1] ergaben stets dasselbe Bild: Durchschnittlich reichen fünf bis sieben Verbindungen aus. Bei Facebook jedoch ist man zu anderen Ergebnissen gekommen, die nicht überraschen: Nach eigenen Angaben sind bei Facebook alle User im Durchschnitt über dreieinhalb Stationen miteinander verbunden. [2] Das ist einleuchtend, wenn man sieht, wie viele sogenannte Freunde manche Menschen haben. Nur dass dieser „Freunde"-Begriff wenig mit der Realität und schon gar nichts mit Milgrams Annahmen von 1967 zu tun hat. Rein mathematisch gesehen ist es aber natürlich erklärbar, dass eine höhere Kontakt-Anzahl schneller zu einer beliebigen Person führt als eine geringe Zahl an vernetzten Knotenpunkten.

Die grundlegende Logik hinter diesem Phänomen kann auch lustige Variationen erzeugen. Kennen Sie die Bacon-Zahl? Hinter diesem Akronym verbirgt sich eine Abwandlung, die das Kleine-Welt-Phänomen zugleich anschaulich beweist. Mit der Bacon-Zahl, benannt nach dem Schauspieler Kevin Bacon, wird die kleinstmögliche Verbindung von jeder Schauspielerin oder jedem Schauspieler zu Kevin Bacon ausgedrückt, die Knotenpunkte sind dabei die Filme. Als Datenbasis dient die umfassende Datenbank der IMDB [3]. Auf der Website https://oracleofbacon.org/ lässt sich jedoch nicht nur dieses Phänomen ergründen, hier können sogar alle Filmschaffenden der Vergangenheit und Gegenwart in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Ein wirklich großartiges Spielzeug mit erstaunlichen Ergebnissen. Oder hätten Sie gedacht, dass die Bacon-Zahl von Till Schweiger zu Barack Obama lediglich 2 ist? Zwischen beiden liegen also genau zwei Filme mit einem einzigen Schauspieler als „Zwischenpunkt", der in beiden Filmen agiert hat. Man geht davon aus, dass die maximale Bacon-Zahl bei vier liegt.

Und was hat das nun mit IT zu tun? Mehr als Sie denken. Die Grundannahmen hinter dem Kleine-Welt-Phänomen sind insbesondere für Firmen wie Facebook enorm wichtig. Wer dort (noch) ein Konto hat, wird die Vorschläge zu Freundschaftsanfragen kennen. Die mit Abstand einfachste Variante lautet: A kennt C und B kennt C, dann wird über kurz oder lang Facebook A und B gegenseitig als Freunde vorschlagen. Dank der Mitteilungsfreude so vieler Menschen und der Algorithmen-gesteuerten Datenauswertung sind natürlich längst deutlich komplexere Verkettungen möglich. Wenn man vor vierzig Jahren als kleines Mädchen den Vater verliert, der mit einer neuen Freundin die Mutter und das Kind verlässt, und vierzig Jahre später wird diese damalige Geliebte der nunmehr erwachsenen Frau als Freundin bei Facebook vorgeschlagen, was sagt das wohl über Facebooks Algorithmen sowie die Nutzung und Verknüpfung weiterer Datentöpfe aus? [4]

Ganz ähnlich macht sich Google AdWords die Kleine-Welt-Logik zunutze. Eigentlich hat dieser Dienst die Funktion, Werbung auf Basis von Schlüsselwörtern beispielsweise in Suchmasken aber auch in sozialen Netzwerken zu platzieren. Targeted Advertisierung oder auch Adtargeting ist das wesentliche Element moderner Werbestrategien. Ähnlich wie beim Microtargeting, das ganz besonders Barack Obama bei seiner Wiederwahl salonfähig gemacht hat, geht es bei der zielgerichteten Werbung darum, dem jeweiligen User eine Werbung zu präsentieren, die eine hohe Chance auf Aufmerksamkeit hat. Nun aber geht AdWords noch deutlich weiter: Über eine umfassende Datenanalyse gepaart mit erneut komplexen Algorithmen betreibt AdWords quasi Social targeting. Dabei wird ausgehend vom Kleine-Welt-Phänomen angenommen, dass Netzwerk-Freunde gleiche oder ähnliche Interessen haben. Die Auswertung bestehender Kontakte führt also, ganz ohne die Eingabe von irgendwelchen Schlüsselwörtern, zu einer sehr granularen Zuordnung einer Person in verschiedenste soziale Schubläden, auf dessen Basis dann die Werbung gezeigt wird.

Und zum Abschluss noch ein vollkommen anderes Beispiel: die bewusste Nutzung des Phänomens beim Recruiting. Nicht wenige Firmen sind sich um die Möglichkeiten bewusst und setzen spezielle Empfehlungsprogramme und -strategien ein. Mindestens ein Drittel aller Menschen findet ihre Jobs über persönliche Kontakte, in Führungspositionen dürfte der Wert noch einmal weit darüber liegen. Dabei spielen die Beschäftigten eines Unternehmens die zentrale Rolle. Wie sprechen diese über ihre Firma? Positiv? Negativ? Verstärkt eine Firma das Kleine-Welt-Phänomen durch eine gezielte Förderung der Aktivitäten aller Beschäftigten insbesondere bei LinkedIn oder Xing? Gibt es sogar Prämien, wenn auf Empfehlung eines Beschäftigten eine neue Fachkraft anfängt, die super einschlägt und ein Gewinn für die Firma ist? Wenn IT.Niedersachsen bald 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, wie groß ist dann wohl das Netzwerk schon nach nur zwei Knoten?

Was also ist die Welt? Sie ist genauso ein Dorf wie Hannover, und wenn Sie auf einer einsamen Insel jemanden treffen, der jemanden kennt, der wiederum einmal IT.Niedersachsen erwähnte, dann wissen Sie nun, dass Sie sich nicht zu sehr darüber wundern sollten.


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[1] https://arxiv.org/pdf/0803.0939.pdf
[2] https://research.fb.com/three-and-a-half-degrees-of-separation/
[3] http://www.imdb.com/
[4] https://gizmodo.com/how-facebook-figures-out-everyone-youve-ever-met-1819822691

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